Sonntag, 15. Juli 2012

Leben - vorwärts und rückwärts

Ich las heute das Buch "Dossier K." von Imre Kertész. Es handelt sich um eine (wie er betont die einzige) Autobiographie dieses tiefgründige Menschen, aufgebaut als quasi sokratische Frageform, bei welcher Frage und Antwort sich steigern zur immer genaueren Antworten auf das, was gesucht ist - hier wohl so etwas wie die Quintessenz dieses Lebens und Schreibens. Imre Kertész betont in diesem Werk mehrmals die Sinnlosigkeit der Geschichte (bei seinem Erlebten nicht verwunderlich) und das Ausgeliefertsein an ebendiese. Er verneint ein Schicksal, weil genau dieses nach Sinn fragen würde. Und er ziert sich ab und an, gewisse Dinge zu bennenen, zu erklären, da er findet, dass die nachträgliche Erklärung wiederum einen in der Originalzeit nicht sichtbaren Sinn und Zusammenhang entstehen liesse.

Es hat mich sehr berührt zu sehen, wie ein so begnadeter Schriftsteller, wie ein so tiefgründiger, feinfühliger (in Beschreibung der Umstände wie in der Wahl der dazu passenden Form) Schriftsteller selber von Selbstzweifeln geschüttelt war, wie er an sich und seinem Schreiben zweifelte, wie er durch Durststrecken lief, nur um wieder zu merken: ich muss schreiben, ich will schreiben. Er bezeichnete das Schreiben gar als sein Verbrechen, da er sich die Zeit stahl, zu schreiben, statt etwas "Sinnvolles" zu tun.
Erklärt man die Geschichte rückwärts, sieht man einen Nobelpreisträger, der sein Leben lang einer Berufung folgte. Was aber, wenn die ersten Ablehnungen der Manuskripte angehalten hätte? Was, wenn er nie ein Werk hätte veröffentlichen können? Was würde man dann sehen? Einen in die Irre Gelaufenen? Einen Phantasten? Einen Irren? Lebenskünstler, Idealist, Nichtsnutz? Als das sah er sich, ab und an. Er nagte - an sich und an den Existenzgrundlagen. Und immer wieder half eine glückliche Begebenheit, dass es weiter ging.

Doch Schicksal? Musste er schreiben? War das seine Aufgabe in diesem Leben? Durch Schriftsteller wie ihn sind die Verbrechen der Nazizeit ans Licht gekommen und da geblieben. Durch Menschen wie ihn, die schreiben mussten (auch Primo Levi nannte es seine Pflicht, zu schreiben, damit er Zeugnis ablegen könne für die, welche es nicht mehr können), erfuhr die Nachwelt, was in den Lagern anno dazumal passiert ist.

Was ist vorbestimmt? Was ist der Weg, den man gehen will, soll, muss? Und kann man ihm entfliehen? Ist der Mensch frei oder gibt es doch die vorgespurte Schiene, in die er muss? Im Rückblick liesse sich die Frage folgerichtig beantworten, da man aus den Gegebenheiten Kausalketten bilden könnte. In der Vorschau steckt man in der Spekulation fest, kann Wahrscheinlichkeiten benennen, Prognosen fällen, die denen des Wetters nichts nehmen. Schlussendlich bleibt wohl nur, das Leben auf ehrliche Weise zu leben. Lebenslügen sind auch nur Lügen, irgendwann stolpern die kurzen Beine und man liegt - flach. Der Weg über Stock und Stein kann einen auch hinhauen, nur lässt es sich dann leichter aufstehen, da man die Kräfte beisammen hat. Bei den Lügen hat man sie verpufft durch das Wahren des Scheins nach aussen. Der vormals als Weg des geringeren Widerstands erscheinende Weg entpuppt sich dann als Krafträuber. Subtil, anfangs unbemerkt. Doch wenn man es merkt, ist es zu spät. Korrektur nur noch mit erneutem Kraftaufwand möglich.

Gibt es ein Schicksal? Ist alles vorbestimmt? Vermutlich ist das nicht mal wirklich relevant. Schlussendlich führt der Lebensweg einen durch Hochs und Tiefs, ist mal schön, mal schrecklich. Man sucht nach seinem Platz im Leben, manche finden ihn schneller, manche suchen ein Leben lang. Am Schluss landen alle am selben Punkt. Was bleibt, ist das Gefühl beim Rückblick. Und schön wäre es, dann sagen zu können: Das war das Leben, das ich leben wollte.

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