Freitag, 13. Juli 2012

Vergeben und vergessen

Im Zuge einer wissenschaftlichen Arbeit untersuchte ich vor einigen Jahren die Südafrikanische "Truth and Reconciliation Commission" (TRC). In meiner Arbeit ging es darum, aufzuzeigen, wie man nach einem Unrechtsregime Normalität und Frieden herstellen, wie man eine Transition to Justice, eine Überführung zur Gerechtigkeit herbeiführen kann. Die Schwierigkeit in Südafrika nach der Apartheid war, dass die vormaligen Täter und Opfer nach dem Umbruch zusammen leben mussten, in einem Staat. 

Die Kommission funktionierte so, dass die Opfer und die Täter eine Plattform erhielten, ihre Erlebnisse der Vergangenheit zu erzählen. Man erhoffte sich dadurch, dass das Erzählen die Wunden heilen hilft bei den Opfern (frei nach Freuds These, dass man Traumata und schwierige Erlebnisse nochmals wiedererleben muss, um sie dann verarbeiten zu können) und dass die Erzählungen der Täter dazu beitragen, die Geschichte klar sichtbar zu machen, die Hintergründe offenzulegen, die Taten belegbar zu machen. Ziel dieser ganzen Aktion war es, Vergebung zu erreichen. Vergebung als Basis des Friedens. Mit sich selber und mit dem anderen.

Wie ist es in unserem privaten Leben? Wie reagieren wir, wenn uns Unrecht widerfährt? Vergeben und vergessen, alles wieder gut? Oder hadern wir und tragen nach? Kommt es auf die Art und Schwere des Unrechts an, wie wir reagieren? Oder ist allein unser Naturell ausschlaggebend? Kann man alles vergeben? Muss man? Wieso? Für wen? Für sich selber? Für den anderen?

Ich bin nicht nachtragend. Gebe jedem eine zweite Chance, oft auch eine dritte. Ich lasse mich gerne davon überzeugen, dass unschöne Dinge auf Missverständnissen beruhen, nicht böse gemeint waren. Zudem bin ich der Meinung, dass niemand immer fair ist und man kaum durchs Leben gehen kann, ohne andere zu verletzen, selbst wenn man das nicht will. Und doch: Kann man alles vergeben? Kann man bei allem sagen: Schwamm drüber, schauen wir nach vorne? Und wenn nicht, was sind die Kriterien, dass es nicht geht? Und was macht das mit einem?

Das Vergeben ist wohl umso schwerer, je tiefer die Verletzung traf. Verletzungen treffen dann, wenn es um Themen geht, die für den Betroffenen heikel, sensibel, belastet sind. Ist die Verletzung in dem Bereich passiert, fällt es schwer, einfach darüber hinwegzugehen. Der Stachel sitzt tief. Wenn man genau hinschaut, hilft einem aber das Unversöhnliche nicht wirklich, Frieden zu finden. Selbst wenn Kampfstillstand herrscht, in einem selber nagt der Konflikt weiter. Man beobachtet mit Argusaugen, was der andere macht. Und hofft inständig, dass er einfach nur weniger gut ist als man selber. Der Stachel der Missgunst, des Zwists steckt tief.

Das Problem ist, dass negative Gefühle gegen andere einem selber wenig bringen. Weder erfährt man dadurch eine Befriedigung noch erwirkt man eine Veränderung der Situation. Der andere spürt diese Gefühle oft nicht mal. In einem selber aber nagen sie permanent, wenn man keinen ausgeprägten Verdrängmechanismus sein Eigen nennt. Vergeben und vergessen wäre also die Lösung. Nur: Kann ich einfach alles vergessen und vergeben? Wäre das nicht ein Persilschein für die, welche Unrecht tun? Niemand trägt es nach, es wäre gleich wieder ungeschehen. Diese Handhabe würde dazu führen, dass man weniger achtsam wäre im Umgang mit anderen. Man hat keine Konsequenzen zu fürchten. Das kann nicht die Lösung sein. Doch wo findet man diese? Was kann man verzeihen, was sollte man verzeihen und wo kann oder muss man auch mal sagen: Bis hier hin und nicht weiter?

Die Art der Verletzung ist sicher ein Kriterium bei der Entscheidung, ob man diese vergeben kann oder nicht. Je grösser das eigene Leiden ob des Verhaltens des anderen desto schwerer, dieses zu vergeben, gar zu vergessen. Je grösser die emotionale Betroffenheit ist, desto tiefer setzt sie sich im Bewusstsein und damit in der Erinnerung fest.
Zweites Kriterium ist sicher, wer der Verletzende ist. Wie nah steht er einem? Grosse Nähe kann aber in meinen Augen auf zwei Seiten ausschlagen. Einerseits würde man gerade von einem sehr nahen Menschen keine Verletzungen erwarten, ist dementsprechend viel tiefer getroffen als wenn es ein Fremder wäre. Zum anderen liegt er einem so am Herzen, dass eine unversöhnliche Haltung einem auch den Umgang mit dem eigentlich teuren Menschen erschwert, wenn nicht gar verunmöglicht.
Drittes Kriterium könnte sein, wie gross die Gefahr ist, dass das wieder passiert. Sieht der Verletzende seine Fehler ein, will sich ändern, will das gleiche in Zukunft vermeiden, fällt es leichter zu vergeben, als wenn er sich auf den Standpunkt stellt, unschuldig zu sein, nichts getan zu haben, die Verletztheit des Getroffenen vielleicht sogar noch in Frage stellt und als Fehler des Verletzten auslegt.
Viertes Kriterium ist sicher das Motiv der Verletzung. Steckte Absicht, böser Wille dahinter oder waren es andere Beweggründe oder schlicht Unwissenheit, ein Versehen, Unbedachtheit? Boshaftigkeit zu verzeihen fällt sicher schwerer als Unbedachtheit. Beim ersten sieht man sich direkt als gewünschtes Opfer einer Verletzung, beim zweiten fällt es leichter, ein Auge zuzudrücken.

Vermutlich gibt es noch viele weitere Kriterien, allen voran die Art des Kontaktes mit dem anderen. Wenn ich diesen jeden Tag sehe, ihm nicht aus dem Weg gehen kann, ist es zwingender, mit ihm einen Umgang zu finden, der nicht täglich mit schlechten Gefühlen belastet ist. Wenn das nicht der Fall ist, funktioniert die Haltung "aus den Augen aus dem Sinn" besser, sofern man es auch selber zulässt und nicht ständig daran rumstudiert.

So oder so lässt sich wohl sagen, dass eine nachtragende Haltung zuerst einem selber schadet. Man selber vergiftet das eigene Denken und Leben mit den negativen Gefühlen und Gedanken, dreht sich in einer negativen Spirale und leidet darunter. Wenn der andere überhaupt etwas davon mitkriegt, ist es für ihn trotzdem nicht so belastend, da es nicht in ihm dreht, sondern in einem selber. Man kann also sagen, dass es so oder so - für einen selber - wichtig ist, eine versöhnliche Haltung mit dem Geschehenen einzunehmen. Für den weiteren Umgang mit dem anderen bleibt zu überlegen, wie wichtig einem dieser ist. Wenn der Mensch sehr wichtig ist und man ihn nicht verlieren will, bleibt wohl nur, zu "vergeben und vergessen" zu tendieren, denn ein Umgang, bei welchem ständig die alten Verletzungen auf den Tisch kommen, wird sich über kurz oder lang selber vergiften. Ob man das kann, hängt mit verchiedenen, teils oben genannten, Kriterien zusammen. Und dann gibt es vielleicht noch die Fälle, bei welchen man zum Schluss kommt, dass es keinen gemeinsamen Weg mehr gibt, weil die Verletzung zu tief geht.

Wichtig ist sicher immer, sich selber zu fragen, was genau einen wirklich verletzt hat, ob es der andere war oder aber eigene Prägungen und Gedanken, welche durch dessen Verhalten losgetreten wurden. Ab und an stösst ein Aussenstehender in eine Wunde, die schon vor dem Stoss da war, nun aber schmerzt. Dann tendieren wir dazu, den Zustossenden verantwortlich zu machen für den Schmerz, statt zu sehen, dass dieser Schmerz schon vorher in uns angelegt war. Wenn wir uns aber entschliessen, dass es einer Verletzung wegen keine Zukunft mehr gibt, sei es, weil das Vertrauen zerbrach, sei es, dass die Wunde zu tief sitzt, sei es, weil schlicht die Basis verloren ging, dann hilft es erst recht, loszulassen. Die Verletzung und den Menschen. Den Menschen aus dem Leben zu streichen, ihm aber mit den Gedanken immer noch nachhängend und nachtragend hilft weniger als nichts. Damit fügen wir uns selber ständig neue Wunden zu durch unser Denken.

Betrachtet man das Beispiel der TRC, hilft im ganzen Prozess sicher, einander die Möglichkeit zu geben, sich zu erklären. Nur so wissen beide, was wirklich passiert ist, was in beiden vorging während der Verletzung und was beide daraus ziehen - für sich selber, für das Miteinander. Hüllt man sich in Schweigen, zieht sich zurück, versucht die Vergangenheit für sich selber zu klären, die Beweggründe des anderen selber vorwegnehmend, wird man nie zur wirklichen Wahrheit von beiden stossen, sondern sich in seiner eigenen kleinen Welt im Kreis drehen. Oft mit falschen Hypothesen, die schlussendlich in die Irre führen. Die Wahrheit über die Vergangenheit kann helfen, diese Vergangenheit einzuordnen, zu bewerten und für sich selber zu verarbeiten. Und damit bringt diese Wahrheit Frieden. Inneren wie auch äusseren - egal, ob die Beziehung (wie auch immer gelagert) fortdauert oder nicht.

Schlussendlich bleibt zu sagen, dass Vergeben sowohl für einen selber als auch für das Miteinander eine wichtige Voraussetzung ist. Nur wenn wir es schaffen, uns selber und anderen zu vergeben, kehrt in uns selber und im Austausch mit dem anderen Frieden ein. Wenn man diesen Schritt gegangen ist, bleibt zu überlegen, wie die Basis zum anderen nun aussieht, was man sich zumuten kann und will, womit man leben will. Bleibt eine ständige Angst vor neuer Verletzung, ist es wohl ehrlicher, in Frieden auseinanderzugehen. Fühlt man die Zuversicht, dass es nicht wieder vorkommt, tut man sich selber und dem anderen einen Gefallen, die Vergangenheit ruhen zu lassen und in die Zukunft zu schauen. Nichts hält Fehler der Vergangenheit so präsent wie die eigene Erinnerung und die Gedanken dazu.

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