Donnerstag, 24. November 2011

Das Leben in wachsenden Ringen

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.

Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.


Rainer Maria Rilke, 20.9.1899, Berlin-Schmargendorf

Ein genialer Dichter, ein wundervolles Gedicht. Das Leben lebt sich immer nur vorwärts. Und indem man vorwärts geht, kommt immer etwas dazu. Wir kommen auf die Welt als unbeschriebene Blätter und lernen, was die Welt bedeutet - oder aber in der anderen Sicht: alles ist in uns, wir müssen es nur erwecken. So oder so, die Grundaussage ist dieselbe: das Leben zeigt sich mit jedem Schritt, mit jedem neuen Augenblick, von einer neuen, grössern Breite, Es öffnet seine Tore, lässt den Blick weiter werden. Was wir heute auf die eine Art sehen, kommt uns morgen anders vor. Nicht weil es sich verändert hat, sondern weil wir uns verändert haben.

Immanuel Kant sagte einst: Wir wissen nicht, ob das, was wir sehen, grün ist, oder ob wir nur eine grüne Glasscheibe an Stelle des Auges tragen. Wie oft gehen wir dahin und denken, das, was wir sehen, denken, fühlen, sei die Wahrheit. Wir hätten sie erkannt. Und schon morgen kann die Welt anders aussehen, die heutige Wahrheit zur Lüge verkommen sein. Wir sehen nur, was unser heutiger Blickpunkt uns sehen lässt. Diese Erkenntnis hilft, nicht überheblich zu werden, andere nicht zu verurteilen für ihre Sicht der Dinge. Denn wer sagt uns, ob nicht ihre Sicht die ist, die wir morgen auch haben werden? Selbst wenn wir heute (klar zu recht aus unserer Warte) von unserer überzeugt sind? Das heisst nicht, dass wir keine Überzeugungen mehr haben sollen, sondern, dass wir andern die ihren lassen sollen und einen Weg finden, wie wir mit unseren, sie mit ihren, gemeinsam klar kommen. Im Wissen, morgen kann die Welt anders aussehen.

Und so wachsen wir Tag für Tag, lernen dazu, gehen in eine neue Runde, sehen neue Welten, neue Aspekte, lernen neue Ängste kennen, die aus neu erkannten Gefahren, Unsicherheiten wachsen. Alles wächst, alles spriesst, nichts bleibt. An etwas festzuklammern würde Stillstand bedeuten. Im ersten Augenblick würde es nach Sicherheit aussehen, im zweiten nach Tod. Lassen wir uns leiten, gehen wir, Schritt für Schritt, Ring für Ring, durchs Leben, nicht wissend, wer wir sind, wo wir landen, was wir sollen. Immer im Willen und Wunsch, den letzten Ring zu vollenden.

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