Dienstag, 10. Juli 2012

Ring um Ring in die Zukunft

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.

ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und kreise jahrtausendelang;
und weiss noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein grosser Gesang.

Rainer Maria Rilke, 20.9.1899, Berlin-Schmargendorf

Mit dem ersten Schritt in dieser Welt nehmen wir Eindrücke wahr, hören Stimmen, fühlen Dinge. All das prägt unseren zweiten Schritt, die folgenden mit. Jeder weitere Schritt trägt in sich die vergangenen Schritte, trägt sie mit zum  nächsten Schritt. Jeder weitere Schritt ist damit Folge der letzten Schritte und zugleich basiert der nächste auf ihm. Und so nimmt das Leben seinen Lauf, hinein in eine immer weiter führende Spirale.

Im Rückblick gäbe es vielleicht das eine oder andere, das man lieber ausgelassen hätte. Man sieht Ringe, die man nicht hätte erleben wollen. Und doch haben sie dazu geführt, was heute ist. Ohne diese Ringe wäre der heutige nicht da. Wir können nie sagen, ob das gut oder schlecht ist. Es ist, wie es ist.

Im Wissen um die Wichtigkeit des einzelnen Schrittes stellt sich oft die Frage: Was ist richtig, was falsch? Welchen Schritt soll ich gehen, wofür mich entscheiden? Wo führt mein Weg hin, wenn ich mich für das eine oder andere entscheide? Wer will ich sein, wo will ich überhaupt hin? Und oft scheitert es an der letzten Frage. Das Wollen konkurriert mit dem Sollen und dem Müssen. Oft nicht mal bewusst. Und man sieht sich in der Mitte stehend, Wollen, Sollen, Müssen mit Argumenten um sich schlagend, alle klingen sie gut, die des Wollens am leisesten, die des Sollens etwas lauter, die des Müssens erschlagend laut. Das Wollen zieht sich kleinlaut zurück, das Sollen brüstet sich, das Müssen setzt sich durch.

Wer bestimmt das Müssen? Wer ist Regisseur in unseem Leben? Wer bestimmt das Sollen? Wer hat die Befehlsgewalt in unserem Leben? Wer das Wollen? Die letzte Frage ist einfach: Man selber. Dann wird es schwierig. Noch schwieriger wird es, wenn man erkennt, dass Sollen und Müssen zwar wie eigene Stimmen klingen, schlussendlich aber von aussen kommende Meinungen sind, die über Tag und Jahr so in einen hineinflossen, dass sie nun als quasi eigene wieder hinausströmen.

So sitzt man dann da, denkt sich, was man gerne hätte, denkt sich, was die anderen von einem erwarten, was die Gesellschaft erwartet, scheltet sich nen Toren und versucht, den Weg zu gehen, der angezeigt wäre - aus der Sicht von aussen, wie man sie im Innern sieht. Man denkt, so das Richtige zu tun. Wieso nur fühlt es sich so wehmütig an? Wie ein kleiner Tod? Das kann nur die eigene Narrheit sein. Diese hirngestrickten Phantasien von eigenem Wollen, die jeglicher gesellschaftlichen Realität zuwidersprechen. Und doch: tief drin sind sie da. Und motzen beim blinden Folgen von Sollen und Müssen. Wie mein Sohn es tut, wenn ich ihm was verbiete. Sie ziehen den Kopf ein, lassen die Schultern vornüber hängen, schlarpen leise davon, dafür umso lauter schimpfend. Wie kann sie nur? Wieso tut sie das? Was soll das überhaupt? Was ist schon Sollen? Was Müssen? Wieso werden wir nie erhört?

Das Leben ist mit sehr vielen Pflichten gefüllt. Diese stammen meist von ausen. Frei nach Rousseau finden wir uns in Ketten wieder, nachdem wir frei geboren wurden. Meistens jedoch sind die Ketten selbst auferlegt. Alle Ketten, die wirklich verpflichtend sind, entstammen dem gesunden Menschenverstand über ein angenehmes Zusammenleben. Sie handeln davon, sich so zu verhalten, dass niemand Schaden nimmt, man selber auch nicht. Die hält man im Normalfall automatisch ein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand dahin geht und denkt: Ich schade nun allen, mache allen das Leben schwer (klar, die gibt es, aber das ist nicht die Norm, nicht das gesunde Denken, eher eine falsche Prägung, die Trotz, Ekel, Hass und Wut hervorbrachte). Der ganze Rest ist selbstauferlegt. Aus Gründen. Klar. Die klingen einleuchtend. Relevant ist die eigene Haltung dazu. Will ich das? Wirklich? Kann ich damit umgehen, damit nicht im grossen Teich zu schwimmen, sondern eher alleine? Und aufgrund dieser Erwägngen gilt es dann, einen Weg zu wählen. Und ihn zu gehen. Im Bewusstsein, dass es der eigene Weg ist. Frei gewählt. Man kann Richtungsänderungen vornehmen. Aber man sollte sich immer bewusst sein: Man hat(te) es in der Hand. Zum grossen Teil.

Und so lebe ich mein Leben. In Ringen. Immer weiter. Und hoffe, ich kann in den meisten Zeiten sagen: Es ist gut so, das ist der Ring, den ich wollte. Den Ring mag ich.

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