Dienstag, 17. Januar 2012

Vom Leiden

Ich leide, also bin ich. So könnte man teilweise denken, funktioniert das Leben. Irgendwas lässt uns oft leiden, lässt uns unzufrieden sein mit dem Augenblick, der Situation, in der wir stecken. Wir denken dann, das Leben sei schwierig, wir leiden unter Ängsten, unter Sorgen, Nöten. Wir sind enttäuscht oder sehen unsere Erwartungen nicht erfüllt. Wo kommt dieses Leiden her?
Patanjali nennt in seinen Yoga-Sutras (II,3) fünf leidvolle Zustände: Nichtwissen, Ichgefühl, Begierde, Hass und Lebenstrieb. Diese fünf Zustände teilt er weiter ein in intellektuelle, emotionale und instinktive.

Nichtwissen oder der Mangel an Weisheit (Avidya) gehört zu den intellektuellen Leiden. Dabei handelt sich aber nicht um Buchwissen, welches mangelt, sondern es ist die Erkenntnisfähigkeit an sich, welche nicht da ist, das spirituelle Wissen, welches fehlt. Man wendet sich dabei falschen Göttern zu wie Materiellem, wie Dingen der äusseren Welt, statt sich auf sich und das Sein zu besinnen und der wahren Erkenntnis nachzuforschen.

Ichgefühl oder Egoismus (Asmita) gehört ebenfalls zu den intellektuellen Leiden. Paart sich das mangelnde spirituelle Wissen mit Hochmut, führt das oft zu Selbstüberschätzung und Egoismus. Das Ego bläht sich auf und ignoriert dabei die wahren Werte im Leben, verletzt das mütfühlende Miteinander, sondern sieht sich selbst als Zentrum des Seins, welches nicht das All-Eins ist, sondern ein Sein als agozentrisches Wesen, getrennt von den andern, welche dem eigenen Ego unterlegen scheinen. Das Gefühl für das natürliche Mass geht dabei verloren, das Masslose nimmt überhand.

Raga (Begierde) Und Dvesa (Hass) gehören zu den emotionalen Leiden. Sowohl die masslosen Begierden, welchen man sich ungehemmt hingibt, als auch zügelloser Hass gegen andere lösen Disharmonien zwischen Körper und Geist aus, bringen einen aus dem eigenen Gleichgewicht. Wenn ich jemanden hasse, füge ich also nicht ihm Leid zu, sondern nur mir selber. Ich verletze mich ständig selber durch dieses zerstörerische Gefühl. Auch die bodenlose Gier vermag nichts Gutes, sondern lässt uns nur ständig im Gefühl des Mangels leben. Wir sehen nie genug, streben immer nach mehr, wollen alles haben, was wir sehen und sehen nicht, was wir eigentlich haben. Leid ist die offensichtliche Folge, psychosomatische Störungen sind nicht weit.

Am Schluss der fünf Leidensformen steht die Lebensgier (Abhinivesa). Frei nach dem Motto "Freunde, wollt ihr ewig leben" fürchten wir uns vor dem Tod, malen ihn in den schwärzesten Farben und wollen nichts mehr, als unser Leben verlängern. Wir klammern uns regelrecht ans Leben, weil wir Angst haben vor dem, was danach kommt. Dieses Klammern läst uns argwöhnisch werden, gegen andere, gegen das Leben selber, die Gefahren, die lauern können. Wir werden selbstsüchtig und ichbezogen, weil wir für uns das Leben gepachtet haben, wir es leben wollen und wir die am Leben haben wollen, die um uns sind und für uns wertvoll. Indem wir uns aber so verbissen an das Leben klammern, verstricken wir uns in Todesängsten, welche dem Leben die lebendigkeit nehmen. Wir sind verbissen, verbohrt und ängstlich. Und wir leiden.

Patanjali rät nun dem Sadhaka (dem Übenden), genau hinzusehen, wenn er leidet: woher kommt mein Leiden? Was ist der wirkliche Ursprung meines Leidens? Oft leiden wir vordergründig an etwas, das sich in Ketten auf ein erstes Glied zurückführen lässt - welches dann einer der fünf genannten Leidensformen entspricht. Und wenn wir diese erkannt haben, können wir sie bewusst angehen und daran arbeiten, sie zu überwinden. Wenn man nach den yogischen Prinzipien der Yamas und Niyamas lebt, die Asanas und Pranayama übt, lassen sich die Leiden im Ansatz unterbinden. Aber am Anfang steht das Bewusstsein und die Selbsterkenntnis. Die stehen jedem offen, der sie sehen will.

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